Vom Nischen- zum Breitenhobby
Eine Nation im Oldiefieber
tpf. Kaum zeigt sich im Frühjahr die Sonne, sind sie wieder unterwegs: Automobile Augenweiden aller Baujahre, die uns im «Weisst Du noch?» schwelgen lassen und knatternd Geschichte verkörpern. Gefühlt werden es immer mehr Oldies. Fällt altes Blech einfach mehr ins Auge? Nicht nur: Tatsächlich steigt die Zahl Veteranen. «Alleine der Bestand an vor 1960 gebauten Personenwagen ist von 2000 bis 2020 von 8400 auf über 13900 Fahrzeuge gewachsen», sagt Thomas Rohrbach, stellvertretender Leiter Kommunikation des Bundesamts für Strassen (Astra), «und auch der Bestand an Fahrzeugen der 1960er- und 1970er-Jahre nimmt stetig zu.» Letztere machen bei den Personenwagen (PW) den Grossteil des Klassikerbestands aus. Eine Studie (siehe QR-Code am Artikelende) des Oldtimerdachverbands Swiss Historic Vehicle Federation (SHVF) kam 2020 für 2019 auf 156000 Oldtimer – wohlgemerkt nur PW und Töffs über 30 Jahre, also noch ohne Youngtimer, Nutzfahrzeuge und die 22000 «sleeping Beauties», die nicht immatrikuliert sind.
Alleine letztes Jahr ist die Zahl der über 30-jährigen Schönheiten auf Pneus laut Astra schon wieder um 8000 Stück gestiegen. Wie das? Die Schweiz ist derart im Oldiefieber, dass sie sogar massiv Importe ansaugt. Obwohl viele hiesige Veteranen umgekehrt ins Ausland abwandern, wo sie gerne als besonders gepflegte Geheimtipps («Schweizer Auto!») angepriesen werden. Enorm ist neben dem Spass- das Umsatzpotenzial der Szene. Zwar sind Klassiker selten so teuer wie per se gerne angenommen: Die Hälfte liegt bei unter 20000 Franken. Aber zusammen repräsentieren sie 7,7 Milliarden Franken Wert. Statistisch werden jährlich 5000 Franken pro Fahrzeug und weitere 1000 für Ausflüge und derlei investiert. Die gerne als Nische abgetane, in Wirklichkeit bedeutende Oldtimerszene ernährt mit jährlich 836 Millionen Franken gesamthaft Klassikerhändler und Zubehöranbieter, Versicherer und Eventausrichter – und, denn 47 Protent der Arbeiten an Oldies werden von Fachbetrieben durchgeführt, Garagistinnen und Garagisten. Wie Maja Guetg, Inhaberin der Garage Guetg in Niederlenz AG: «Es kommen vermehrt junge Menschen zu uns, die ins Hobby einsteigen. Zum Saisonstart im Frühjahr sind wir voll ausgelastet.»
Fotos: Oldtimer in Obwalden (O-iO.ch); Grafiken: Swiss Historic Vehicle Federation (SHVF.ch)
Wie enorm die Anziehungskraft von altem Blech ist, zeigen Grossevents wie beispielsweise die Swiss Classic World (SCW) in Luzern. Oder wie Oldtimer in Obwalden (O-iO), eine Art Volksfest mit klassischen Fahrzeugen dazwischen. «Vielleicht ist es nostalgische Sehnsucht nach einer Zeit, die unbeschwerter war», antwortet O-iO-Gründer Ruedi Müller, einer der Nestoren der Oldieszene, auf die Frage, weshalb der Anlass stets Massen von Besucherinnen und Besuchern anlockt. Müller scheut sich auch nicht, eine Brücke in die Gegenwart und Zukunft zu schlagen, um das Hobby zu sichern: 2022 etwa waren am O-iO historische wie neue Elektroautos dabei.
Schliesslich stehen Oldtimer in Zeiten der Klimadebatte und CO2-Gesetze gelegentlich bereits unter Beschuss – völlig zu Unrecht, da sie nicht zum Öko-Feindbild taugen: Zwar sind immerhin knapp zwei Prozent aller Schweizer PW über 30 Jahre alt, diese spulen aber gerade mal ein Tausendstel der Fahrleistung aller PW ab. Im Schnitt kommen Veteranen auf nur 790 Kilometer im Jahr. Und das Behalten ist grüner als ein Wegwerfen: In der CO2-Bilanz macht die Herstellung eines Autos 15 bis 35 Prozent der Emissionen über den Lebenszyklus aus. Eine Studie des britischen Centre for Economic and Business Research (CEBR) hielt 2020 fest: Der von einem Oldtimer verursachte CO2-Ausstoss pro Jahr entspricht jenem eines halben Jahres Smartphonebenutzung!
Zudem steht die Bevölkerung hinter Oldtimern: In der SHVF-Umfrage freuen sich 44 Prozent der Menschen in der Schweiz, Oldies auf der Strasse zu sehen. Die Hälfte der Befragten findet, dass historische Fahrzeuge ein schützenswertes Kulturgut sind. Ein Fünftel besässe gerne einen Oldtimer. Der Boom dürfte also trotz lauer Konjunktur weitergehen, zumal Oldies als reine Anlageobjekte wegen unvorhersehbarer Preisentwicklung und dem Unterhaltsbedarf zwar ungeeignet sind, aber ihren Wert mindestens stabil halten und den Besitz mit Fahrvergnügen abgelten. Das Hobby hat Zukunft für Garagistinnen und Garagisten. Nicht umsonst bietet der AGVS mit dem Schweizerischen Carrosserieverband (VSCI) und der Interessengemeinschaft Fahrzeugrestauratoren Schweiz (IGFS) die Ausbildung als Fahrzeugrestaurator/-in mit eidgenössischem Fachausweis an.
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