Elektronischer Spagat zwischen Komfort und Sportlichkeit

Fokus Technik

Elektronischer Spagat zwischen Komfort und Sportlichkeit

4. Juni 2020 autoberufe.ch – Adaptive Federungs- und Dämpfungssysteme modernster Fahrzeuge überbrücken die Diskrepanz, ob eine Fahrwerksauslegung ab Werk komfortabel oder sportlich sein soll. Diverse Technologien erlauben es den Fahrzeugentwicklern heute, die Federungs- und Dämpfungscharakteristik innert Millisekunden zu verändern. Wir bieten einen Überblick über den Stand der Technik und die Auswirkungen auf den Werkstattalltag.

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Den aktiven Wankstabilisator ersetzt Audi durch einen aktiven Fahrwerkssteller. Was Mercedes-Benz mit dem Magic Body Control und ABC-Plunger-Fahrwerk vormachte, setzt der VW-Konzern nun noch aufwändiger um: Luftfederung und elektronisch gesteuerte Schwingungsdämpfung erhalten eine zusätzliche Beeinflussung, um Fahrbahnunebenheiten «wegzuglätten».
Quelle: Audi


se. Fahrwerksentwickler vor über 20 Jahren waren nicht zu beneiden: Einzig mechanische Systeme konnten eingesetzt werden, um die Fahrwerkscharakteristik eines Fahrzeuges zu beeinflussen. Die Federrate einer Schraubenfeder war wählbar zwischen linear oder progressiv, die Zug- und Druckstufe der Schwingungsdämpfer und auch die Auslegung des Kurvenstabilisators mussten als Kompromiss gewählt werden. 

Citroën mit dem legendären hydropneumatischen Fahrwerk oder erste Luftfahrwerke in Luxuslimousinen waren die Ausnahme und erlaubten neue Fahrerlebnisse. Doch bei den Schwingungsdämpfern wurde bald mit der Bypassfunktion experimentiert, um die Druck- und Zugstufe bei kleinen Federbewegungen sanft agieren zu lassen und erst bei grossen Ein- und Ausfederungen höhere Dämpfungskräfte zu erzeugen.

Heute schöpfen die Ingenieure aus dem Vollen: vom adaptiven Schwingungsdämpfer über Luftfedersysteme mit Mehrkammervolumen bis zum aktiven Wankstabilisator reicht die Palette. Bei Audi wird mit einem innovativen Aktivfahrwerksteller mit kräftigem Elektromotor und Wellgetriebe die Möglichkeit erweitert. 

Um diese Systeme optimal arbeiten zu lassen, müssen die Fahrzeugbewegungen um alle drei Achsen zuerst präzise erfasst werden. Mittels Beschleunigungs- und Drehratensensoren in x-, y- und z-Achse, Lenkradwinkelsensor und Radstandhöhensensoren arbeiten die passiven Systeme. Sie reagieren auf bereits eingeleitete Kräfte und Bewegungen. 

Einfachste Systeme, wie Ford im aktuellen Focus anbietet, erhalten eine Schlaglocherkennung. Dabei werden die Federbeinbewegungen ausgewertet. Beschleunigt das Rad rasch aus oder in den Radkasten (Schlagloch oder Erhöhung), verkleinern Magnetventile den Öldurchfluss und verhärten je nach Situation die Druck- oder Zugstufe. Dank blitzschneller Auswertung vermag das Rad nur wenig Bewegung durchzuführen, bis das System reagiert. Es kann kurzzeitig dem Fahrbahnverlauf (Schlagloch) nicht folgen, hängt kurzzeitig in der Luft und verhindert ein Aufschlagen des Reifens und im Extremfall der Felgenhörner auf die Schlaglochkante. Entsprechend entfallen ebenso zu grosse Kräfte auf die Karosserie und die Langlebigkeit der Fahrwerkskomponenten ist höher.

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Auch im Aftersales besteht in der Entwicklung von modernsten Schwingungsdämpfertechnologien noch viel Potenzial, um Kunden sportlichere Fahrwerksabstimmungen als der OEM bieten zu können. Bei KW Automotive werden die Dämpfer nicht nur entwickelt, sondern auch gefertigt. Quelle: KW 

Modernste Fahrwerksregelsysteme arbeiten aktiv. Mittels Stereokamera wird die Fahrbahn auf Unebenheiten gescannt. Wird eine Erhöhung oder ein Schlagloch erkannt, werden die Schwingungsdämpfer und die Federung sowie auch die aktiven Wankstabilisatoren so angesteuert, dass das Rad ohne grossen Widerstand in den Radkasten tauchen oder der Fahrbahnvertiefung folgen können. Die Vernetzung mit der digitalen Strassenkarte des Navigationssystems erlaubt schon vor Kurvenbeginn, die Fahrwerkskomponenten so zu regeln, dass die Karosserie bei Kurveneinfahrt beinahe keine Wankbewegungen mehr zulässt. Auch Nickbewegungen beim Bremsen oder Beschleunigen werden dank elektronischer Helferlein weggebügelt. Was in Chauffeurslimousinen der Fahrer mit entsprechendem Feingefühl im rechten Fuss erledigte, übernimmt heute die Elektronik.

Aktuelle Luftfahrwerke erlauben durch elektromagnetische Ventile das Zuschalten von zwei zusätzlichen Luftvolumina. Die Dreikammerluftfahrwerke weisen also drei verschiedene Federraten auf und können so von sportlich bis komfortabel eingesetzt werden. Durch die aktiven Fahrwerksregelsysteme kann also vor der Unebenheit bereits die Federkennlinie vorgewählt werden. Durch grosse Druckluftspeicher lässt sich zudem blitzschnell das Luftvolumen durch Zu- oder Abführen anpassen. Bei passiven Systemen wird die via Niveausensor festgestellte Beschleunigung der Fahrwerksteile bestimmt und innert Millisekunden die Federrate angepasst.

Bei den Schwingungsdämpfern konnten in den vergangenen Jahren enorm viele Entwicklungsfortschritte realisiert werden. Adaptive Dämpfer arbeiten grundsätzlich nach zwei Hauptarten. Bei der magnetrheologischen Variante werden Eisenpartikel ins Dämpferöl beigemischt. Durch Anlegen eines elektromagnetischen Feldes bei den Arbeitskolbenventilen wird das Öl in der Viskosität verändert. Liegt ein starkes Magnetfeld an, werden die Metallpartikel dreidimensional ausgerichtet und sorgen für ein dickflüssigeres Dämpferöl. Die Druck- und Zugstufe kann so verhärtet werden. Liegt kein Magnetfeld an, so passiert das Dämpferöl die Arbeitskolbenventile dünnflüssiger. Die Druck- und Zugstufe ist weicher, die Abstimmung komfortabel. Durch Beifügen von Additiven ist es heute möglich, die Eisenpartikel in Schwebe zu halten und im Dämpferöl gleichmässig zu verteilen, um den Effekt jederzeit garantieren zu können.

Eine verbreiterte Methode ist die Regulierung des Öldurchflusses beim Arbeitskolben. Mittels pulsweitenmodulierter Magnetventile wird eine unabhängige Zusatzflussmenge über den Bypass sowohl für die Druck- wie auch die Zugstufe gesteuert. Dadurch wird das durch die Ölkanäle und -ventile des Arbeitskolbens geführte Ölvolumen durch Umgehung dieser Barriere direkt vergrössert. Wird der Bypass angesteuert, kann zusätzlich Öl vom oberen in den unteren Druckraum (Druckstufe) oder umgekehrt fliessen. Die Spreizung der Dämpferkennlinie erlaubt es, eine situationsangepasste Dämpferwirkung zu realisieren. 

Die Freiheitsgrade aller Federungs- und Dämpfersysteme inkl. Kurvenstabilisator ermöglichen den Entwicklern verschiedene Kennlinien und Charaktere der Abstimmung für den Kunden. Sei es durch Vorwahl im Menü (Track-Modus, sportlich, komfortabel usw.) bis zur adaptiven Regelung sind keine Grenzen gesetzt. Einzig das vorhandene Entwicklungsbudget, -zeit und die Anzahl der Entwickler setzen Grenzen. Für die Werkstatt bedeutet dies vielfältigere Diagnose- und Überprüfungsroutinen, um Fehler oder Funktionsstörungen detektieren zu können. Das Verständnis über die Vernetzung der Systeme muss hoch sein. So ist es auch für Sport- und Gewindefahrwerkhersteller eine grosse Herausforderung, durch Änderungen nicht andere Systeme zu beeinträchtigen. Wird ein Luftfahrwerkstuning angeboten, das bei Autobahngeschwindigkeit oder langsamerer Fahrt die Karosserie deutlich tiefer setzt als im Serienzustand, können beispielsweise Fahrerassistenzsysteme wie ACC oder Spurhalteassistent Fehlinterpretationen liefern. Diese Modifikationen würden entsprechend die Sicherheit herabsetzen und sind nicht im Sinne des Kunden.

Doch nicht nur in der Diagnose und Kalibrierung sind die Werkstattmitarbeiter gefordert. Auch bei einfachen Federungs- und Dämpfungssystemen sind vom Berufslernenden bis zum etablierten Werkstattmitarbeiter höchste Konzentration und Sorgfalt verlangt. Alle Fahrwerkskomponenten gehören zu den aktiven Sicherheitssystemen. Ohne eine präzise Radführung durch spielfreie Lenker und korrekt arbeitende Schraubenfedern sowie hydraulische Schwingungsdämpfer kann die Sicherheit auf der Strasse nicht garantiert werden. Fahrzeuge können durch Defekte sich dynamisch merkwürdig verhalten (plötzliches Übersteuern usw.) und den Fahrer überfordern. 

Entsprechend ist die Kontrolle von Arbeiten an Federungs- und Dämpfungsarbeiten durch die Vorgesetzten gerade bei Berufslernenden zwingend. Sei es beim Schraubenfederausbau oder dem unsachgemässen Anheben eines Fahrzeuges mit Luftfederung auf dem Lift: Unfälle und Reparaturen wegen Nichtbeachten der Herstellervorgaben kommen teuer zu stehen. Nur schon das Lichteinstellen von modernen Aktiv-Matrixscheinwerfern bedingt, dass bei modernsten Fahrwerkssystemen der Diagnosetester eingesetzt wird, um eine Neutral- oder ein Einstellniveau der Luftfederung zu bewirken. Wird dies unterlassen, wird sowohl der Gegenverkehr als auch vorausfahrende Fahrer geblendet.
 
Werkstattarbeiten am Fahrwerk – 100% Qualität und Konzentration

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Das Fahrwerk stellt die Verbindung zwischen Rad und Karosserie her. Bei Arbeiten rund ums Fahrwerk gilt die 0%-Fehlertoleranz. Auch das Gefahrenpotential von vorgespannten Schraubenfedern, die bei der Demontage mit einem Federspanner gesichert werden, wird vor allem von Hobbyschraubern unterschätzt. Quelle: ZF

se. Vier handtellergrosse Flächen übertragen die dynamischen und statischen Kräfte von der Fahrbahn auf den Reifen und umgekehrt. Vom Rad gelangen die Kräfte via Radlager auf die Fahrwerksteile und via Gelenke auf die Karosserie. Um Komfort und Sicherheit zu gewährleisten, müssen vom Werkstattpersonal nicht nur die Lenker auf Spiel kontrolliert, sondern auch die Schwingungsdämpfer, die Schraubenfedern auf Bruch und die Luftfederelemente auf Dichtheit geprüft werden. Immer komplexere Federungs- und Dämpfungssysteme erfordern aber auch eine vertiefte Systemkenntnis, um bei Fehlfunktionen die Ursache zu finden. 

Im Fehlerspeicher hinterlegte Probleme lassen sich bei modernsten Fahrzeugen meist nur mit dem Markentester eruieren. Zu vielfältig und umfangreich sind die Möglichkeiten, dass auch unabhängige Prüfgeräteanbieter für jedes Fahrzeug immer aktuelle Diagnoseroutinen anbieten können. Grundsätzlich gilt bei Fahrwerkssystemen die Nullfehlertoleranz bei Arbeiten. Wird ein undichter Schwingungsdämpfer übersehen, kann dies für den Kunden fatale Folgen haben. 

Deshalb gilt in der Werkstatt bei Fahrwerksarbeiten höchste Konzentration und Sorgfalt. Kein Wunder werden auf den kantonalen Strassenverkehrsämtern die Fahrwerksteile inkl. Federung und Dämpfung (sowie Bremsen) genauestens kontrolliert. Nur einwandfrei arbeitende Systeme gewährleisten die Sicherheit im Strassenverkehr. Der Garagist mit ausgebildetem Werkstattpersonal garantiert diese Sicherheit und erntet dafür grosses Vertrauen des Kunden.
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